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Helmut Jursitzka

Nachname:
Jursitzka
Vorname:
Helmut
geboren:
1933-02-25
Zugehörigkeit:
NordtirolerIn
letze Änderung:
Wed Nov 04 13:58:24 UTC 2020
Biographie
Helmut, das vierte Kind von Johanna und Josef Jursitzka, kommt am 25. Februar 1933 in Innsbruck zur Welt. Der Vater stammt aus dem ehemaligen Österreichisch-Schlesien, geboren in Bennisch (heute Benesov), besucht er die Schule in Troppau (heute Opava) und wird als junger Soldat im Ersten Weltkrieg zweimalverwundet. Nach dem Kriegsende erschien einigen Schlesiern die Lage in der neu geschaffenen ČSR zu unsicher, wie es ja die Geschichte nach dem 2. Weltkrieg bewies. Von dort, wo die Sippe Jursitzka seitJahrhunderten lebte, wandern die Eltern von Josef Jursitzka aus und ziehen samt ihrer großen Familie nach Tirol. Helmuts Mutter, die Kontoristin Johanna Bliem, stammt aus Innsbruck. Johanna und Josef heiraten am 8. September 1923, und zeugen in einem sehr christlichen Haushalt in elf Jahren „nur“ vier Kinder: Gisela,Gertrud, Herbert, Helmut. Der Pfarrer in Wilten, Beichtvater der Mutter, ermahnt sie nach allzu langen kinderlosen Pausen stets an ihre christlichen Pflichten zu denken. Im Jahr 1935 stirbt die Mutter mit einem weiteren Kind unter dem Herzen. Eine schwierige Situation für den Vater mit vier unmündigen Kindern. Dankbar erinnert sich Helmut Jursitzka an Frau von Eminger. Vermittelt gewissermaßen als Zwischenlösung durch den Pfarrer in Wilten, kommt sie als Erzieherin ins Haus. Sie war früher in reichen und adeligen Familien beruflich erfolgreich gewesen. Doch selbst für manche Adlige brachen schlechte Zeiten herein. Maria von Eminger hatte nach einer geeigneten Stellung in einer Familie gesucht , aber gewiss nach einem gut bestellten Haushalt. Trotz persönlicher Nachteile verpflichtet sie sich der Familie. Sie wäre seinetwegen geblieben, wird sie Helmut später sagen. Anfang 1938 verliert der Vater seinen Posten als Angestellter in einer streng katholischen Firma angesichts des Schicksals der Familie nicht sonderlich gottgefällig. In seiner Lebensgeschichte verschweigt der Sohn den Firmennamen, und diese Haltung muss respektiert werden. Jedenfalls wird der Vater verleumdet, ein Nazianhänger zu sein. Dabei ist er einer katholischen Österreichpatriotischen Bewegung zugetan. Seither gesundheitlich sehr angegriffen, auch in der Sorge um den Sohn Herbert. Der Fünfzehnjährige leidet nach einem schlecht behandelten Splitterbruch im Bein an Knochentuberkulose, was viel zu spät erkannt wird. Herbert erträgt schweigend auch die Schmerzen, er will niemand mit noch mehr Sorgen belasten. Es schien, als verheimlichte jeder in der Familie seine inneren Gefühle aus Angst, sich ein weiteres Mal zu verlieren. Ohne Hilfe der Ziehmutter wäre die Familie wirklich verloren gewesen. Gemessen an der katastrophalen Arbeitslosigkeit dieser Zeit ist der Vater bloß acht Monate arbeitslos. Im Herbst nach dem Anschluss an Deutschland verhilft ihm seine Charakterstärke zu einem neuen Posten im Finanzamt in der Gutenbergstraße. 1939 beginnt mit Helmuts Schulzeit ein turbulentes Jahr. Zweimal müssen die Kinder Lesen und Schreiben lernen, zunächst die Kurrentschrift, nach drei Monaten die Lateinschrift. Zu dieser Zeit grassiert eine Scharlach- und Diphtherie-Epidemie. Ende des Jahres verbringt Helmut sieben Wochen im Krankenhaus. Besuche von Angehörigen sind wegen der Ansteckungsgefahr streng verboten. Deshalb darf der sechseinhalbjährige Bub auch die Spielsachen und alle Geschenke während der langen Krankheit nicht nachhause mitnehmen. Daheim fühlt er sich anfangs fremd. Insgesamt versäumt er im 1. Schulhalbjahr fast drei Monate. Der Vater erholt sich nicht von seinen Krankheiten und stirbt 1941 im 53. Lebensjahr. Die Ziehmutter auf Zeit wäre nicht verpflichtet gewesen, zu bleiben. Doch sie lässt es nicht zu, dass Helmut und seine drei Geschwister getrennt werden. Von da an nennen sie die Kinder „Mamå“ mit Betonung auf der letzten Silbe nach französischem Sprachlaut. Sie hält die Familie zusammen, überwiegend mit eigenen Mitteln. Der zehnjährige Helmut kommt zu den Pimpfen, eine Unterstufe der Hitlerjugend, kurz „HJ“. Helmut betrachtet die wöchentlichen Heimabende als eine Art Freiheit. Denn die Pflegemutter ist sehr streng, sie unterbindet den Kontakt mit anderen - wegen negativer Einflüsse. Heute versteht er es besser: „Unsere Mamå hat uns zu selbständigem Denken und gestärktem Selbstbewusstsein erzogen.“ Offenbar beobacht und überprüft man sogar die Pimpfe auf ihre Tauglichkeit. Helmut wird als einer der Jüngsten während der Ferien in ein Führerlager am Vomperberg beordert. Burschen und Mädchen aller Altersgruppen, der Betrieb ähnlich den Heimabenden, und es gefällt ihm. Im Sommer 1943 sorgt die Kinderlandverschickung, dass Helmut während der Ferien aufs Land kommt, weit weg von daheim nach Türkheim, einem kleinen Ort im Schwäbischen nahe Geislingen bei Ulm. Vier Innsbrucker Kinder, die sich sehr wohl fühlen in Türkheim. Kartoffelkäfer soll man suchen. Trotz der Kartoffelkäferplage - sie schadet der Ernte bis übers Jahr 1950 hinaus - genießt Helmut eine unbeschwerte Zeit in Türkheim. Damit ist es dann vorbei. Am 15. Dezember 1943 erfolgt der erste Bombenangriff auf Innsbruck. .. Eigenartig, wie gleichmütig er den Bombenterror schildert, aber später bei den Nachkriegserfahrungen in Aufruhr gerät. Jeden hat die zerstörte Kindheit unterschiedlich geformt. Die Familie wird auseinandergerissen. Bruder Herbert wird ins Krankenhaus nach Cortina gebracht, eine Schwester liegt mit einem Armbruch Krankenhaus Natters, seine um acht Jahre ältere Schwester Gisela kann bei ihrer Arbeitsstelle unterkommen. Helmut und die Pflegmutter werden am 24. Dezember nach Thiersee evakuiert. „Wir trafen am Heiligen Abend 1943 in der Pension in Thiersee ein, als man gerade Weihnachten feierte. Wie die Mamå sich geschämt hat, weil wir noch das verstaubte Gewand trugen!“ Fast alle sind Bombenopfer aus Deutschland, die schon früher nach Thiersee kamen. Bald erhalten Helmut und die Pflegemutter ein Zimmer in einem Haus an der Durchzugsstraße, nahe dem Passionsspielhaus. Daneben befindet sich ein mit Stacheldraht umgebenes Gefangenenlager für serbische Soldaten. „Für diese Kriegsgefangenen wohl ein friedlicheres Leben als an der Front.“ Erst im 3. Drittel der 1. Klasse besucht Helmut das Gymnasium in Kufstein. Dann folgt eine interessante, allerdings kurze Episode, denn er kommt mit zehn anderen Ostmärkern durch Zufall zur „Napola“ auf die Insel Reichenau. Der Drill macht ihm nichts aus.Was gut für ihn ist, nimmt er gern an, scheint aber doch zu viel nachzudenken. Über seinen Abschied nach einigen Wochen spricht er nicht. Er fährt allein mit dem Zug zurück. Fliegeralarm in Bregenz, Helmut bleibt amBahnhof im Warteraum sitzen. Der Schulbetrieb in Kufstein endet im Frühjahr 1945 nach einem schrecklichen Bombenagriff auf Kufstein. Helmut Jursitzka berichtet nahezu nüchtern, wie er den Angriff erlebte. Den Kindern widerfährt eine Horrorvision.Doch die Jugend hat sich abgekapselt; sie schaut und beobachtet zwar, steht aber außerhalb desGeschehens. Vor dem Umbruch ziehen die zurückflutenden Militäreinheiten zur Alpenfestung. Das Festspielhaus nützen sie als Lager für jeglichen Militärbedarf. In Thiersee verstreut entstehen Lebensmittellager. Die Buben helfen beim Abladen fleißig mit und alle wissen, wo etwas gelagert wurde. Beinahe über Nacht verschwinden die militärischen Einheiten. Und sofort werden die Vorratslager gestürmt. Sogar Kufsteiner marschieren mit Leiterwagen den weiten Weg zu den Vorratslagern in Thiersee. Alles befindet sich in Auflösung, da führen die Burschen ihren privaten Feldzug. Gewehre, weggeworfene Patronengurte und Panzerfäuste landen im Thiersee. „Wir haben die Waffen entsorgt, damit sie nicht dem Feind in die Hände fallen!“ Im Wald und rings um den See finden sie weggeworfene Schulterklappen deutscher Offiziere, sie kennen den Rang und verlieren den eingebläuten Respekt vor den Herren. Einmarsch der Amerikaner, gleich am ersten Tag hängen sie beim Gemeindeamt Wandzeitungen auf, mit Bildern von den KZs. Die Einheimischen, eher wenig an der Partei interessiert, stehen davor und schütteln die Köpfe. Man glaubt es nicht und hält alles für Gräuelmärchen, Kriegspropaganda der Amis. Viele Einheimische, vor allem die Einquartierten, müssen binnen einer Stunde die Zimmer verlassen. Wohin , fragt die Mamå. Ob ihr etwa die Russen lieber gewesen wären, erwidert der Offizier. „Offenbar wussten die Amis genau, was dort passierte!“ Am selben Tag nehmen deutsche Flüchtlinge die Tiroler zu sich. „Je ärmer die Leute waren, desto eher suchten sie Zusammenhalt, um sich nicht ganz im Chaos zu verlieren.“ Natürlich macht sich Helmut noch am Abend nach der Zwangsübersiedlung durch die Amis auf den Weg, die Gegend zu erkunden. So entdeckt er das Auto. Da streift ein Bub allein herum und findet einen Schatz. Nun, so romantisch verläuft das Leben nicht am Ende eines verlorenen Krieges. Der Zwölfjährige schafft es, zwei schwere Koffer mit Dosen und Damenwäsche zu bergen. Am nächsten Morgen steht vom Volkswagen nur das Gerippe da, ohne Motor, Räder und Sitze. Von den Amerikanern fällt für schlaue Kinder einiges ab. Den Kaffeesatz, den sie eimerweise wegschütten, kocht die Pflegmutter dreimal auf. Im Thiersee fischen die Amis hemmungslos mit Handgranaten. Dann ziehen sie ab, es kommen die Franzosen „echte Hungerleider“. Die Franzosen requirieren sofort, gehen von Haus zu Haus und filzen aus den Vorratslagern gehamsterte Wehrmachtsbestände vom Keller bis zum Dachboden: Heuwagen voll Uniformen, Stiefel und Militärkappen, Decken, Werkzeug und Strickleitern, leider auch lebenswichtige Medikamente. In der Stadt dürfte man ähnliche Manöver unternommen haben. Die Amis haben sich nicht darum gekümmert, sie lebten im Gegensatz zu den Franzosen, ihren sogenannten Verbündeten, im Überfluss. Der zwölfjährige Helmut wundert sich über den Mangel an Hilfestellung unter den Alliierten. Als die Pflegemutter und Helmut mit einem Leiterwagen Thiersee verlassen, muss noch eine Klippe überwunden werden. Am Ende der Straße befinden sich Posten der Franzosen, die alles kontrollieren, was nach Kufstein gelangt. Wer weiß, ob man nicht die Damenwäsche als ärarisches Gut betrachtet? Gisela und Gertrud helfen mit. Die Mamå geht mit Helmuts älterer Schwester voraus. Die hübsche Gisela und das perfekte Französisch von der Mamå soll die Wachmannschaft ablenken, und es gelingt. Inzwischen stehlen sich Helmut und seine jüngere Schwester auf Umwegen zum Bahnhof. Dass man bei Rattenberg mit der Fähre über den Inn gebracht wird, und mit Sack und Pack auf der gegenüberliegenden Seite bis zum wartenden Zug laufen muss, registriert er als die üblichen Plagen. Die vereinte Familie bezieht im selben Häuserblock in einem leicht beschädigten Haus eine Wohnung. Die Ernährungslage ist schlecht. Von jedem Ausflug bringt die Familie, gewissermaßen zwangsläufig, je nach Jahreszeit reiche Beute heim. Brennnessel für Spinat, Heilkräuter, Pilze, Beeren und Heizmaterial. Am Adolf Pichler Platz betreut Helmut eines der Beete, auf denen Familien Gemüse anbauen dürfen. Pferdefleisch ist begehrt, weil man für Lebensmittelmarken die doppelte Menge bekommt. Schüler erhalten über die Schweizerhilfe am Vormittag eine Jause in der teilzerbombten Markthalle. Helmut geht aufs Realgymnasium. Sein Bruder Herbert hilft trotz Schmerzen mit, in einer Telefonzentrale ein Zubrot zu verdienen. An einem Morgen passiert es, Herbert geht nicht zur Arbeit. Helmut findet seinen Bruder auf dem Bett sitzend, wie er sich mit den Krücken auf den Kopf schlägt. Es soll aufhören! Herbert ist 21 Jahre alt und stirbt in der Innsbrucker Klinik an einem Gehirntumor. Ab der 4. Klasse muss der jüngste Jursitzka aus finanziellen Gründen eine Arbeitsstelle suchen. Mit der Lehre als Schriftsetzer in der Verlagsanstalt Tyrolia erlernt Helmut einen sehr angesehenen Beruf. Selbst vom Gymnasium ein „Zweier“ in Deutsch ist fast noch bedenklich. Nach vierjähriger Lehrzeit und abgeschlossener Prüfung dann der begehrte Gautschbrief. Mit dieser Urkunde wird er nach erfolgter Taufe als Jünger Gutenbergs und Schwarzkünstler anerkannt, wie es die Tradition verlangt. Er bedauert, dass ein paar Jahrzehnte später einige ehrenwerte Berufszweige im graphischen Gewerbe ganz oder teilweise verloren gingen. Bald übersiedelt er in das Büro, durchläuft einige Arbeitsbereiche, um sie in den letzten Jahren mit der selbständigen Arbeit des zentralen Einkaufs zu beenden. Der Tiroler mit schlesischen Wurzeln heiratet im Mai 1958 ein Mädchen aus dem ehemaligen Böhmen, wieder eine typische, österreichische Verbindung. Drei Kinder und inzwischen zehn Enkelkinder ergänzen die Familie. Wie so viele, von den Kriegsjahren geprägte Erwachsene, wird Helmut Jursitzka kein Essen wegwerfen und Schuhe bis zum sichtbaren Verfallsdatum aufbrauchen. Seinen Pullover, in den die Mamå seinerzeit gedankenlos „HJ“, die Anfangsbuchstaben seines Namens eingestrickt hatte, trug er Beleidigungen und Anpöbeleien zum Trotz, bis er dem entwachsen war. Anju